"Analyse ist die Zwangsneurose der modernen Gesellschaft."

© BILANZ 01/12 13.01.2012

Wer die Pisa-Studie 2009 richtig interpretiert, kommt zum Schluss: Ständige Schulreformen sind überflüssig.

Gegen Ende 2011 präsentierte das Konsortium Pisa.ch die detaillierten ­regionalen Ergebnisse der Pisa-Tests aus dem Jahr 2009 bei Schülerinnen und Schülern in der Schweiz am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit. Grosse Wellen schlugen die Ergebnisse nicht. Es gab nur ­einige Spekulationen darüber, warum die Schüler in bestimmten Kantonen besser abgeschnitten haben als in andern.

Der wirkliche Zündstoff, der in den Studien­resultaten enthalten ist, wurde hingegen gar nicht wahrgenommen. Höchste Zeit deshalb, dass wir unser Augenmerk darauf richten.

Worum geht es also? Die wichtigste Erkenntnis lässt sich plakativ wie folgt zusammenfassen: Es spielt keine Rolle, in welchem Ort Kinder zur Schule gehen und in welche Schule sie gehen. Entscheidend für ihre Leistung sind Merkmale, die durch die ­Bildungspolitik nicht zu beeinflussen sind: die ­Herkunft und das Geschlecht der Jugendlichen. Das zeigt sich anhand aller untersuchten Kompetenzen in den ­Bereichen Lesen, Mathematik und Natur­wissenschaften.

Den am stärksten positiv ausgeprägten Einfluss auf die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers hat eindeutig die soziale Herkunft. Diese wird mittels eines Index ermittelt, der sich aus der höchsten beruflichen Stellung und dem höchsten Bildungsabschluss der Eltern sowie den im Elternhaus ­vorhan­denen Ver­mögensverhältnissen zusammensetzt. Im Klartext ­bedeutet dies: Ein ­reiches und gebildetes Elternhaus sorgt für gute Leistungen, ein armes und bildungsfernes Elternhaus bewirkt das ­Gegenteil. Eindeutig negativ wirkt sich auch aus, wenn in der Familie ein Migrationshintergrund besteht (beide Eltern wurden im Ausland ­geboren) und wenn zu Hause eine Fremdsprache gesprochen wird. Allen diesen Faktoren ist eines ge­meinsam: Man vermag sie weder durch andere Unterrichtsformen noch durch eine permanente Stärkung des Qualitätsmanagements an den ­Schulen zu ändern.

Wirklich überraschend sind diese Ergebnisse nicht, denn dass soziale Herkunft, Sprache und Migrationshintergrund eine Rolle spielen, kann man sich leicht mit gesundem Menschenverstand erklären. Doch es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu, dessen klar feststellbarer Einfluss vielleicht doch überrascht: das Geschlecht eines oder einer Jugendlichen. Bei der ­Lesekompetenz wirkt sich das männliche Geschlecht eindeutig negativ aus. In der Mathematik und etwas weniger stark auch den Naturwissenschaften ist es gerade umgekehrt. Will heissen: Mädchen können Texte ­besser verstehen, Knaben dafür besser rechnen. Vor diesem Hintergrund ist es auch sinnvoll, dass mehr Frauen sprachliche Fächer studieren und dass umgekehrt Mathematik, bestimmte Naturwissenschaften und ­Ingenieurfächer vor allem von Männern studiert werden. Beide Geschlechter machen einfach das, was sie im Durchschnitt besser können. Oder ­ökonomisch ausgedrückt: Männer und Frauen nützen mit ihrer Studienwahl ihren jeweiligen komparativen Vorteil aus.

Wenn wir also überhaupt irgendetwas aus den Pisa-Tests für die Schweiz herauslesen wollen, dann Folgendes: Die für den Erfolg in der Schule verantwortlichen Faktoren liegen ausserhalb der Schule. Eine Bildungspolitik, die auf ständige Schulreformen drängt, ist deshalb weitgehend wirkungslos – und es kann getrost darauf verzichtet werden.