"Analyse ist die Zwangsneurose der modernen Gesellschaft."

© Die Zeit 23.08.2011

Der Ökonom Mathias Binswanger über reiche, aber unglückliche Schweizer und den Preis unseres immensen Wohlstands.

Das Interview ist auch auf der Website Zeit.de erhältlich.

DIE ZEIT: Herr Binswanger, laut Ihren Forschungen macht Reichtum nicht glücklich. Steht der Schweiz, die angesichts der Frankenstärke um ihr Wirtschaftswachstum fürchtet, nun das große Glück bevor?

Mathias Binswanger: Wenn dem so wäre, müssten in der Schweiz schon lange alle glücklich und zufrieden sein, denn wir fürchten ja ständig um unseren Wohlstand – wenn auch immer wieder aus anderen Gründen. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Aber alle Untersuchungen zeigen, dass in reichen Ländern die Menschen mit steigendem Wohlstand im Durchschnitt nicht zufriedener werden.

ZEIT: Und wenn das Einkommen des Einzelnen sinkt, ist er dann zufriedener?

Binswanger: Im Gegenteil. Sinkt das Einkommen des Einzelnen, empfindet er dies als Statusverlust und wird kurzfristig unzufriedener. Längerfristig ist das Glück aber nur sehr beschränkt vom Einkommen abhängig. Glücklich ist tendenziell, wer ein erfülltes Sozialleben hat, gern zur Arbeit geht und nicht zu viel Stress hat.

ZEIT: Zahlt die Schweiz jetzt den Preis für ihren Wohlstand?

Binswanger: Den bezahlen wir schon seit Längerem. Mit dem hohen Wohlstand gerät das Sozialleben immer mehr unter die Räder. Wir vereinsamen häufiger, was viele Menschen vor allem im Alter schmerzlich erfahren müssen.

ZEIT: Sind wir also zu reich?

Binswanger: Ja und nein. Wir können uns etwa ein sehr aufwändiges Gesundheitssystem leisten, das trägt zur Lebensqualität bei. Wir können uns aber auch einen Perfektionsgrad leisten, eine Regelungs- und Gesetzesdichte, die unseren Alltag zunehmend unattraktiv macht.

ZEIT: Macht uns der Reichtum unfrei?

Binswanger: Er macht uns jedenfalls nicht dynamischer. Der Schweizer ist heute vor allem damit beschäftigt, seinen materiellen Wohlstand zu bewahren. Es geht nicht mehr darum, etwas Großes zu erreichen. Man hat kein ideelles Ziel mehr. Die Angst, es könnte irgendwann abwärts gehen, ist stärker geworden.

ZEIT: Führt das auch zu einer Risikoscheu?

Binswanger: Ja. Die Schweiz gebärdet sich, was Investitionen anbelangt, wie ein Entwicklungsland. Wir sind dankbar, dass ein reicher Ägypter in Andermatt Geld investiert . Und die Gemeinden zeigen sich untertänigst ergeben, wenn ein reicher ausländischer Steuerzahler kommt. Wir haben zwar Geld, scheuen aber das Risiko, es im eigenen Land zu investieren. Das sollen bitteschön Ausländer tun. Auf der anderen Seite war aber bei den Großbanken massenhaft Geld für Investitionen in verbriefte Hypothekarkredite aus den USA vorhanden, welche sich nachher als Schrott herausstellten. Kaum winken hohe Renditen auf den Finanzmärkten, gerät die Risikoscheu plötzlich in Vergessenheit.

ZEIT: Die Schweizer sind also eher ängstlich und zurückhaltend?

Binswanger: Ja, das hat aber auch gute Seiten. Deshalb haben wir ein paar Dummheiten nicht begangen, etwa im Bildungs- oder Gesundheitswesen, wo man im Ausland teilweise unsinnige Reformen durchgeführt hat. Das sehen wir etwa bei den Fallpauschalen im Gesundheitswesen, die nächstes Jahr bei uns ebenfalls eingeführt werden. Allerdings besteht hier eine merkwürdige Schizophrenie. Einerseits sind wir stolz, manchmal fast schon überheblich, wir denken, wir machen alles besser als das Ausland. Andererseits aber haben wir Angst, uns nicht rechtzeitig anzupassen, und geben dabei genau die Dinge auf, auf die wir eigentlich stolz sind. Generell haben wir in der Schweiz aber einen sehr guten Branchenmix in der Wirtschaft. Wir haben einerseits Firmen, die sich erfolgreich am Weltmarkt orientieren. Diese sorgen fürs Wachstum. Und wir haben andererseits eine stark binnenorientierte Wirtschaft, wozu auch vom Staat angebotene Dienstleistungen vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen gehören. Diese schafft viele Stellen und sorgt für die Vollbeschäftigung. Aber viele Ökonomen haben die Tendenz, die »produktive« Exportindustrie zum alleinigen Maßstab zu machen und die »wenig produktive« Binnenwirtschaft als Auslaufmodell zu betrachten. Ein fataler Irrtum.

ZEIT: Ich merke, Sie finden diese Diskussion um die Frankenstärke ein wenig absurd.

Binswanger: Allerdings. Wir produzieren immer weniger und importieren immer mehr Halbfabrikate. Deshalb profitieren wir bei der Frankenstärkte auch zunehmend von den billigen Einkaufspreisen. Das beste Beispiel ist Nespresso. Man kauft das fertige Produkt, den Kaffee, im Ausland ein und füllt ihn hier nur noch in Kapseln ab. Das wird dann als qualitativ hochstehendes Schweizer Produkt exportiert. Hier wirkt sich der hohe Franken viel weniger negativ aus als bei einem vollständig in der Schweiz produzierten Gut.

ZEIT: Welchen Preis bezahlen die Menschen?

Binswanger: Man verlangt von ihnen große Flexibilität, will aber gleichzeitig traditionelle Strukturen aufrechterhalten in Form von Gemeinden, Vereinen und Familie. Das geht nicht zusammen. So erodiert das Sozialleben, und das ist in der Schweiz, die auf ein funktionierendes Milizsystem angewiesen ist, besonders gefährlich.

ZEIT: Der Schweizer ist in einem klassischen Dilemma. Er soll globalisiert handeln, ist aber vom Charakter her sehr traditionell.

Binswanger: Ja. Früher ergaben sich die sozialen Kontakte von selbst, heute muss man sich darum bemühen. In dieser Hinsicht sind wir in der Schweiz aber noch ein Entwicklungsland. Wir haben das nicht gelernt.

ZEIT: Warum wehrt sich der Einzelne nicht?

Binswanger: Es ist schwierig, gegen den Zeitgeist zu kämpfen. Es ist leichter, sich zu entziehen, wenn man auf dem Land oder wie ich in der akademischen Welt lebt. Wer aber am Zürichsee lebt und in einer Bank arbeitet, hat es schwerer, wenn alle Nachbarn und Arbeitskollegen teure Autos haben und die Kinder in Privatschulen gehen. Konformitätsdruck und Neid sind da ziemlich stark. Man will um jeden Preis mithalten. Das absolute Einkommen wird zunehmend unwichtig, es geht verstärkt um das relative Einkommen, also darum wie viel man im Vergleich zu anderen verdient und besitzt.

ZEIT: Der Mensch vergleicht sich gerne.

Binswanger: Das kennt man schon von Affen. Versetzt man einen Affen in eine Gruppe mit höherem sozialen Status, steigt sein Serotonin-Spiegel. Während frühere Gesellschaften oft versucht haben, dieses Statusdenken eher zu dämpfen, wird es heute angeheizt. Es wird uns eingeredet, dass wir überall versuchen sollen, die Besten, Reichsten, Erfolgreichsten und Effizientesten zu werden. Wir dürfen ja nie zufrieden sein.

ZEIT: In Frankreich gibt es eine starke Aussteiger-Bewegung. In der Schweiz nicht. Warum?

Binswanger: Weil hier ein Aussteiger nichts gilt, er wird geächtet. Wir feiern höchstens mal einen Manager, der im Alter auf die Alp geht.

ZEIT: Heute ist derjenige der Beste, der am meisten verdient. Früher war der Status eher vom Intellekt abhängig.

Binswanger: Früher ging es noch mehr um Inhalte, heute zählt vor allem das Materielle.

ZEIT: Konnten Sie diesem Druck ausweichen?

Binswanger: Zum Teil ja. Schließlich habe ich ein Buch geschrieben über die Tretmühlen des Glücks und über Strategien, wie man diesen entgehen kann. Da bin ich fast verpflichtet, diese selbst auch anzuwenden.

ZEIT: Ein Preis des Reichtums ist wohl auch, dass wir so wenige Kinder haben.

Binswanger: Dieses Wohlstandsphänomen konnte man schon im Römischen Reich beobachten. Kaiser Augustus beklagte damals den Rückgang der Zahl der Kinder, der mit dem zunehmenden Reichtum vieler römischer Bürger zusammenhing. Die Opportunitätskosten des Kinderhabens steigen mit dem Reichtum. Man hat mehr Möglichkeiten im Leben und muss auf mehr verzichten, wenn man Kinder hat.

ZEIT: Wir haben eine hohe Erwerbsquote bei den Frauen, die meisten arbeiten aber nur in geringen Teilzeit-Pensen. Ruhen sich viele Frauen auf dem Reichtum ihrer Männer aus?

Binswanger: Zum Teil. Aber dahinter steckt ein Grundproblem. Wir haben es in den reichen Ländern bis heute nicht geschafft, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Und dieses Problem verstärkt sich, je reicher ein Land wird. Wir meinen, mit den Krippen eine Lösung gefunden zu haben. Das ist aber nicht der Fall. Denn in Wirklichkeit generieren Krippen für die Eltern einen riesigen Stress, man muss die Kinder bringen, holen und hat vielleicht noch ein schlechtes Gewissen, sie in die Obhut fremder Menschen zu geben. Das ist kein lustiges Leben. Die Konsequenz ist, dass einige ganz auf Kinder verzichtet oder halt Teilzeit arbeiten.

ZEIT: Deshalb leben immer mehr Menschen wieder das traditionelle Modell. Der Mann geht arbeiten, die Frau schaut nach den Kindern.

Binswanger: Ja, Untersuchungen zeigen, dass Frauen wie Männer in dieser herkömmlichen Rollenaufteilung zufriedener sind als in der modernen Zweiverdiener-Familie. Letztere ist einfach mit zu viel Stress verbunden.

ZEIT: Vielleicht sollte die Bequemlichkeit eines Lebensmodells nicht das höchste Ziel sein.

Binswanger: Mag sein. Aber es gibt Untersuchungen der Soziologin Arlie Russell Hochschild , in denen sie den Alltag von amerikanischen Frauen beschreibt: The Commercialization of Intimate Life: Notes from Home and Work . Das sind Horrorgeschichten, man versteht, warum diese Frauen arbeiten gehen, um sich zu entspannen.

ZEIT: Sehen Sie Lösungen?

Binswanger: Man muss sich zum Beispiel genau überlegen, wie und wo man lebt. Nach wie vor wollen viele Menschen ein Einfamilienhaus. Dafür braucht es aber viel Land, und das Haus ist oft nur für die paar Jahre mit den Kindern ideal. Danach ist es zu groß, der Unterhalt zu aufwendig, zu weit weg von der Stadt, der Traum vom Einfamilienhaus wird zum Albtraum. Wir müssen auch von den Idealbildern in unseren Köpfen Abschied nehmen. Dazu gehört die in einem Einfamilienhaus lebende junge, dynamische und intakte Familie, die in den Hochglanz-Heftli immer noch propagiert wird. Die meisten real existierenden Familien sind aber weit von diesem Ideal entfernt.

ZEIT: Kann sich der Schweizer zu viel leisten?

Binswanger: Ja, er leistet sich zum Beispiel immer mehr Wohnfläche. Aber die Menschen werden dadurch nicht glücklicher und es kommt andererseits zu einem zunehmenden Verschwinden des Kulturlandes aufgrund ständiger Überbauungen. Also muss der Staat eingreifen, mittels Gesetzen und Zonenplanung. Das schränkt zwar die individuelle Freiheit ein, erhält aber die Kulturlandschaft in der Schweiz, die ein wesentliches Element der Lebensqualität darstellt.

ZEIT: Ist es eigentlich ein Problem, dass in der Schweiz drei Prozent der Bevölkerung so viel haben wie der ganze Rest zusammen?

Binswanger: Nein, denn der Mittelstand ist immer noch breit und wohlhabend. Aber es bietet sich an, ihn zu schröpfen, dort kann man am besten etwas hohlen. Bei den Armen lohnt es sich nicht, und die Superreichen können Steuern umgehen, sie haben eine bessere Lobby.

ZEIT: Ist Armut ein Problem in der Schweiz?

Binswanger: Nein, im Vergleich zum Ausland gibt es bei uns wenig Armut. Der Sozialstaat ist so gut ausgebaut, dass niemand um sein Überleben fürchten muss, auch die Arbeitslosigkeit ist gering.

ZEIT: Also müssten doch alle glücklich und zufrieden sein!

Binswanger: Deshalb sagen ja die Schweizer in Umfragen: »Wir haben ja eigentlich alles, deshalb müssen wir ja auch zufrieden sein.« Wenn man aber morgens auf dem Hauptbahnhof Zürich steht, hat man nicht den Eindruck, in einer zufriedenen Gesellschaft zu leben.

ZEIT: Was müssten die Schweizer tun, um zufriedener zu sein?

Binswanger: Erstens sollten wir nicht ständig Reformen, Methoden und Konzepte, die sich schon im Ausland nicht bewährt haben, zeitlich verzögert mit noch mehr Akribie und Fleiß nachvollziehen. Diese fatale Tendenz zerstört traditionelle Errungenschaften der Schweiz, die wesentlich zur Lebensqualität beitragen. Es geht nicht darum, bei Pisa-Tests und anderen internationalen Benchmarks möglichst gut abzuschneiden. Das erzeugt nur Stress und Unzufriedenheit, die wahre, aber nicht messbare Qualität des Bildungssystems kommt dabei unter die Räder. Schließlich brauchen wir Schweizer auch noch etwas Entwicklungshilfe in Sachen Savoir-vivre . Der Engpass zum Glück liegt heute nicht im Geldverdienen, die Kunst besteht darin, sein Einkommen für Dinge einzusetzen, die wirklich glücklich machen. Dazu braucht es aber vor allem Zeit. Einerseits haben wir Menschen, die unzufrieden sind, weil sie viel Zeit, aber kein Geld haben. Andererseits gibt es Menschen, die zwar viel Geld, aber keine Zeit mehr haben. Beides ist kein ökonomisch optimaler Zustand. Die Kunst besteht darin, den optimalen Mix zu finden.

ZEIT: Ist die Schweiz zu perfekt?

Binswanger: Wir haben einen Perfektionsgrad erreicht, bei dem die Erhaltung der Ordnung zum Selbstzweck geworden ist und immer mehr Ressourcen absorbiert. Diese Perfektion ist einerseits ein Markenzeichen der Schweiz, für welches wir bewundert werden, andererseits behindert sie aber unsere Kreativität und Freiheit.